Hemdsärmeliges
Pamphlet
Erklärung
einer Buchempfehlung / Von Jürgen Habermas

Der
Brief von Micha Brumlik hat mich aufgescheucht. Ich habe das Buch von
Ted Honderich für die edition suhrkamp empfohlen, trage also
meinen Teil der Verantwortung für eine Publikation, die nach
seiner Auffassung "unverzüglich vom Markt genommen" werden
müsste. Ich glaube, dass mein Freund Brumlik ohne Augenmaß
urteilt, wenn er Nach dem Terror mit Möllemanns Flugblatt
und Walsers Roman (gegen dessen Veröffentlichung ich seinerzeit
Stellung genommen habe) auf eine Stufe stellt.
Als ich Honderichs Manuskript Ende vergangenen Jahres in die Hände
bekam, war ich soeben deprimiert von meinem jährlichen
USA-Aufenthalt zurückgekehrt. Ich war bedrückt vom
öffentlichen Klima dieses liberalen Landes, wo die Regierung den
Krieg gegen den Irak auch in den Medien vorbereitete. Sie appellierte
an die Ängste einer vom grauenhaften Schock des 11. September
verständlicherweise tief beunruhigten Bevölkerung,
während die Stimmen der Opposition fast ganz verstummt waren. Ein
bisschen habe ich aufgeatmet, als das Manuskript des angesehenen
englischen Kollegen eine ganz andere Sicht zur Geltung brachte.
Der Text verrät das Gerechtigkeitspathos eines alten
Sozialdemokraten, der schon lange über die konkreten Folgen einer
monströs ungleichen Verteilung irdischer Güter für die
Lebenszeiten, Lebenschancen und Lebensgeschichten jener ausgepowerten
und erschöpften Bevölkerungen in den marginaliserten Teilen
dieser Welt nachgedacht hat und nun eine Chance sieht, das soziale
Gewissen der "normalen Bürger" der westlichen Welt
aufzurütteln.
Der Autor, der die Tat vom 11. September immer wieder mit starken
Worten verurteilt, will den Blick des Lesers auf den
Entstehungskontextes dieses Verbrechens lenken - und auf die moralische
Bedeutung, die dieser möglicherweise für uns hat. Nicht als
würde er zur Entwirrung der unübersichtlichen
Kausalitäten etwas beitragen. Das Thema des Buches ist mit der
moralphilosophisch gemeinten Kapitelüberschrift "Unser Anteil am
11. September" angezeigt. Honderich stellt Fragen: "Kann man annehmen,
dass die Angriffe des 11. September rein gar nichts mit den uns
bekannten Unterlassungen durch Amerika und uns selbst zu tun haben?
Also nichts mit Malawi, Mozambique, Sambia und Sierra Leone? Ist es
vorstellbar, dass letztere keinen notwendigen Kontext jener speziellen
Absichten darstellen, die mit Palästina, dem Irak und
Saudi-Arabien zusammenhängen? Wenn Sie sich darüber Gedanken
machen, erinnern Sie sich bitte daran, dass die Angriffe auf die
Türme tatsächlich Angriffe auf die herausragenden Symbole des
weltweiten Kapitalismus waren."
In diesem Zusammenhang widmet Honderich auch einige Überlegungen
dem Konflikt in Israel, weil er den Umstand, dass dieser Konflikt seit
mehreren Generationen ungelöst fortbesteht, "ob nun zu Recht oder
zu Unrecht" für eine der "Hauptursachen" des internationalen
Terrorismus hält. Unglücklicherweise gelangt er im Rahmen
einer Moralphilosophie, die ich nicht teile, zu einer Konklusion, die
ich für falsch halte: Honderich unterscheidet seine politische
Bewertung des palästinensischen Terrors nicht von dessen
moralischer Rechtfertigung.
Diese Aussage hat inzwischen, wie ich jetzt einer Fußnote
entnehme, in den USA eine Diskussion ausgelöst, die ich nicht
kenne. Brumlik bemängelt auch faktische Unrichtigkeiten. Dazu kann
ich nichts sagen. Vor allem aber erhebt er den Vorwurf des
Antisemitismus. Daraufhin habe ich mir die deutsche Übersetzung
gestern Abend, wie ich gestehe, ängstlich durchgelesen. Die Person
des Autors kenne ich nur flüchtig von einer professionellen
Begegnung, im Text selbst finde ich aber für den Vorwurf keine
Bestätigung.
Gewiss, es handelt sich um ein hemdsärmeliges Pamphlet, mit dem
ein wissenschaftstheoretisch gut ausgewiesener Philosoph auch einmal
ein größeres Publikum erreichen möchte. Die einseitige
Skizze der Geschichte jenes Konfliktes, der mit der - vom Autor
ausdrücklich gut geheißenen - Gründung des Staates
Israel beginnt, ist weit davon entfernt, dem Anspruch auf historische
Gerechtigkeit zu genügen. Philosophen, die keine Historiker sind,
sind immer in Versuchung, sich Beispiele zurecht zu schneiden, weil sie
nicht am Einzelfall, sondern am analytischen Kern einer allgemeineren
Fragestellung interessiert sind. Das gilt erst recht für
analytische Philosophen, die den Geisteswissenschaften noch ferner
stehen. Allerdings gibt es auch verallgemeinernde Sätze, die mich
bei der Lektüre aufstöhnen lassen: "Als Hauptopfer von
Rassismus in der Geschichte scheinen die Juden von ihren Peinigern
gelernt zu haben". Solche Sätze lassen sich, wenn man sie ohne
hermeneutische Nachsicht aus dem Zusammenhang der Argumente löst,
auch gegen die Intention eines Autors immer für antisemitische
Zwecke verwenden.
Politische Äußerungen sind in hohem Maße abhängig
vom Kontext. Anders als bei wissenschaftlichen Aussagen kann man
fragen: "Wer sagt das wann und wo?" und "Zu wem spricht er?" Beim
ersten Lesen hatte ich die Stimme des englischen Kollegen im Ohr, der
in einem anderen zeitgeschichtlichen Kontext steht als wir und der sich
an ein anderes Publikum wendet. Brumliks Intervention lässt mich
jetzt weniger an den Kontext der Herkunft als an den der deutschen
Rezeption des Buches denken. Der Irakkrieg hat die Stimmung auch hier
im Lande polarisiert. Die Empfindlichkeiten sind gewachsen. Wer die
Politik einer abwählbaren Regierung für falsch - und im Falle
ihrer Fortsetzung für verhängnisvoll - hält, wird
schnell des Antiamerikanismus verdächtigt. Und dieser Verdacht
führt über die Verbindung von Bush mit Scharon schnell zu
einem weiteren Verdacht. Ich kann die Gründe und die
Befürchtungen eines offenbar größeren Teiles unserer
jüdischen Bevölkerung gut nachvollziehen. Die Freunde, die
ich meine, haben - wie aus anderen historischen Gründen auch viele
Polen - im Ernstfall größeres Zutrauen zu der amerikanischen
Schutzmacht als zu einem Deutschland, das sich aus seiner
größten politisch-moralischen Katastrophe soeben erst
mühsam herausgearbeitet hat.
Wenn ich bei meiner Empfehlung die gebotene Rücksichtnahme auf
diese Gefühle versäumt haben sollte, tut es mir leid.
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Dokument erstellt am 05.08.2003 um 18:00:01 Uhr
Erscheinungsdatum 06.08.2003
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