Ted Honderich über Moral, Menschlichkeit und palästinensischen Terrorismus

(This is the original German interview of Ted Honderich in the Marburger Forum, 2004, by Max Lorenzen. There is also an English translation.)

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Ted Honderich war Grote Professor am University College in London und Visiting Professor in Yale und New York.
Weitere, bisher nicht übersetzte Veröffentlichungen von Ted Honderich zum Thema:
“Terrorism for Humanity: Inquiries in Political Philosophy”, Pluto Press, 2003, sowie
“Political Means and Social Ends”, Edinburgh University Press, 2003.
Die Homepage von Prof. Dr. Ted Honderich: http://www.homepages.ucl.ac.uk/~uctytho

Von jeder moralischen Behauptung … kann gesagt werden, dass sie unerwünschte Nebenwirkungen hatte

Marburger Forum: Sie verteidigen palästinensische Terrorakte gegen den Neo-Zionismus, den Sie als die Ausdehnung Israels über seine Grenzen von 1967 hinaus, mit der damit verbundenen Erniedrigung und Ermordung der Palästinenser, bezeichnen. Ihrer Ansicht nach haben die Palästinenser ein moralisches Recht auf diesen Terrorismus. Deswegen wurden Sie des Antisemitismus beschuldigt, unbegründeter Weise, wie Sie sagen. Wie kommt es aber, dass Sie kürzlich ausgerechnet der extrem rechten "National-Zeitung" ein Interview gaben?

Ted Honderich: Der Herausgeber schrieb mir, dass die Zeitung in der Vergangenheit bereits Leute wie Chomsky, Boutros-Ghali, Moishe Arye Friedman, Francis Boyle, die Parlamentsmitglieder George Galloway and Clare Short, Menachem Klein, Peter Ustinov, Gore Vidal usw. interviewt hätte. Alle doch wirklich salonfähig. Chomsky ist der große moralische Richter unserer Epoche. George Galloway ist ein prinzipientreuer, ehrlicher und entschlossener Politiker - ein seltener Vogel. Ich glaubte, dies sei eine ganz normale Zeitung, angeschlossen an ein reguläres Verlagshaus. Dann wurden mir normale Fragen per E-Mail geschickt, und ich antwortete. Als das Interview veröffentlicht war, erhielt ich von deutschen Freunden die schlimme Information bezüglich der Art und Entwicklungsgeschichte dieser Zeitung; ich sei also hereingelegt worden. Schrecklich auf den Seiten dieser Zeitung zu erscheinen. Zukünftig werde ich kein Haus in Deutschland verlassen, es sei denn in der Obhut eines erziehungsberechtigten Erwachsenen.
Hinsichtlich dessen aber, was ich wirklich in diesem Interview gesagt habe, das offenbar angemessen übersetzt wurde, stehe ich zu jedem Wort. Was nun die Idee angeht, dass ein solches Interview an einem solchen Ort die Vorstellung, ich sei ein Antisemit, bestärkt, nun, einen solchen Unsinn zu denken wäre nur jemandem, wie meinem scharfen Kritiker Brumlik möglich. Im ersten Absatz des Interviews spreche ich übrigens mit Entsetzen von Gaskammern und geschändeten Friedhöfen.

MF: Wären Sie, nach diesen schlechten Erfahrungen mit dem gegenwärtigen deutschen Antisemitismus,  geneigter, einen weniger harten Vorwurf, der Ihnen auch gemacht wird, zu akzeptieren, den nämlich, dass Ihre Verteidigung des palästinensischen Terrorismus "in ihrer Konsequenz antisemitisch“ sei?

Ted Honderich: Von jeder moralischen Behauptung unter der Sonne, von jedem politischen oder nationalen oder religiösen Standpunkt, ganz gewiss vom Christentum, kann bezeugt, gesagt oder behauptet werden, dass sie unerwünschte Nebenwirkungen hatten. Das traf selbst auf den Antifaschismus zu. Wenn die moralische Behauptung oder der entsprechende Standpunkt annehmbar sind, so ist diese Nebenwirkung, wenn sie denn existiert, kein ausreichender Grund, die Behauptung oder den Standpunkt nicht zu äußern. Man muss jede Art Nebenwirkung berücksichtigen, aber nicht den Sinn für Proportionen dabei verlieren. Was gegenwärtig Juden in Deutschland geschieht, und was vorhersehbar ist, ist gar nichts im Vergleich zu dem, was Palästinensern in Palästina geschieht. Es lohnt sich hinzuzusetzen, was den weltweiten und natürlich den deutschen Antisemitismus angeht, dass, wie der jüdische Philosoph Michael Neumann kürzlich schrieb, der einzige wirklich gefährliche Ort in der Welt für jüdische Menschen in diesen Tagen Israel ist, eben wegen des Neo-Zionismus.

Die Moral und das Humanitätsprinzip

MF:  Kommen wir nun zu "Nach dem Terror". Sie postulieren in Ihrem Buch die "Existenz und Praxis einer natürlichen Moral". In ihr sind letztlich die ethischen Positionen, die Sie gegenüber dem Terroranschlag vom 11. September beziehen, fundiert. Könnten Sie die Hauptmerkmale dieser "natürlichen Moral" skizzieren?
Ted Honderich: Die natürliche Existenz und Praxis unserer Moral beinhaltet die Tatsache, dass wir alle gewisse große Bedürfnisse („Wünsche“ i. d. deutsch. A.) haben, sechs in meiner Zählart, nach solchen Dingen wie einer anständigen Lebenslänge, Freiheit und Macht, Achtung, körperlichem Wohlbefinden usw. Weiterhin unterliegen wir jener minimalen Rationalität, die Folgerichtigkeit ("Konsistenz" i. d. deutsch. A.) verlangt. Sie können keinen moralischen oder sonstigen Grund für einen besonderen Sachverhalt - sagen wir, einen Vorteil für sich selbst - angeben, ohne dabei auch anderer Menschen Nutzen mitzuberücksichtigen. So sind Gründe nun einmal beschaffen. Auch empfinden wir ein gewisses Mitgefühl für andere Personen außerhalb unserer Familien - wir sind in einem gewissen Maß empathisch.
Diese drei Tatsachen machen einen Großteil unserer menschlichen Natur und unserer natürlichen Moral aus. Aber ich denke, dass die natürliche Existenz und Praxis der Moral nicht die endgültige oder fundamentale Basis für meine Schlussfolgerungen über den Terrorismus darstellen. Diese Basis ist eine weitergehende Bestimmung oder Klärung der natürlichen Moral - die Moral der Humanität und das Prinzip der Humanität. Es handelt sich darum, dass wir tatsächlich rationale Schritte - wirksame und menschlich nicht kostspielige - unternehmen müssen, um Menschen aus dem schlechten Leben und dem Mangel an großen Gütern herauszuholen. Wir müssen damit aufhören, nur vorzugeben, solche Schritte zu unternehmen.
Ich muss noch hinzufügen, dass Ihre Frage über unsere natürliche Moral mich philosophisch ein wenig in Verlegenheit bringt. Es nicht einfach zu sagen, warum genau ich in meinem Buch mit der natürlichen Existenz und Praxis unserer Moral begonnen habe, statt mich gleich der Humanitätsmoral zuzuwenden. Moralphilosophie, einschließlich der angewendeten Moralphilosophie, ist nicht einfach. Wir machen Fehler. Das kann uns jedoch nicht davon abhalten, zu versuchen, unsere Verpflichtungen zu erkennen und nach ihnen zu handeln.

MF:   Sie sagen, dass wir unausweichliche, auf die großen Güter bezogene Bedürfnisse haben, und Sie gestehen wahrscheinlich zu, dass wir nicht nur um Folgerichtigkeit bemüht sein müssen, wenn wir Gründe angeben, sondern auch rational in einem anderen Sinn handeln, indem wir nämlich auf effektive Weise unsere eigenen egoistischen Interessen verfolgen. Sie sagen aber auch, dass wir fähig zu Mitgefühl sind. Wie ist das miteinander vereinbar?

Ted Honderich: Nun, es wäre widersprüchlich zu sagen, dass wir unsere eigenen großen Bedürfnisse schrankenlos verfolgen müssten, bzw. dazu veranlasst würden, dass wir ausschließlich eigennützig seien und trotzdem zu Mitleid neigten, also wirklich von Sympathie für andere affiziert seien. Deshalb behaupte ich keines von beiden. Ich benötige keine solchermaßen starken Behauptungen. Meiner Ansicht nach sind wir sowohl einem gewissen Eigennutz, als auch einem gewissen Mitgefühl für andere unterworfen. Wichtig ist für mich in diesem Zusammenhang, dass wir alle die sechs großen Bedürfnisse tatsächlich für wichtiger als alle anderen halten - mit einem Wort, wir halten es für wichtiger, schlechte Leben zu vermeiden, als bereits gute noch weiter zu verbessern.

Die Alltagsmoral trägt in sich Keime des Humanitätsprinzips

MF: Glauben Sie, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer kulturellen Identität, so etwas wie die von Ihnen beschriebene natürliche Moral besitzen - und dass ihnen allen die genannten drei Attribute zukommen, die auf die großen Güter, auf Mitgefühl und Rationalität bezogen sind?

Ted Honderich: Nun, um es zu wiederholen, alle meine Argumente basieren auf dem Humanitätsprinzip, nicht eigentlich auf unserer gewöhnlichen Moral. Ich glaube, nachdem mich  Ihre Fragen dazu veranlasst haben, weiter darüber nachzudenken, dass die Wichtigkeit der Alltagsmoral bei solchen Überlegungen, wie meinen, zum Teil darin besteht, zu zeigen, dass eine gewisse reale, praktische Möglichkeit existiert, dass wir eines Tages das Prinzip der Humanität umsetzen. Das bedeutet, dass wir in unserer Alltagsmoral immerhin ein kleines Stück auf dem Weg dahin sind. Die Alltagsmoral trägt in sich Keime des Humanitätsprinzips.
Aber um auf Ihre Frage zu antworten, ich glaube tatsächlich, dass zumindest die meisten Menschen, unabhängig von ihren Kulturen, so etwas wie natürliche Moral, wie ich sie verstehe, und auch die drei Attribute besitzen. Ich halte das nicht für ein Naturgesetz oder eine notwendige Wahrheit, die jeden Menschen betrifft. Philosophen scheinen manchmal angenommen zu haben, dass unterschiedliche Argumente auf eisernen Naturgesetzen, die keine Ausnahme zulassen, beruhen müssen. Ich halte das nicht für notwendig. Ich halte es für unerheblich, dass es einige wenige unglückselige Tröpfe oder dumme Menschen oder was sonst gibt, die nicht wünschen, gute Leben statt schlechter zu leben, oder keinerlei Sinn für all das Leid weit entfernt lebender Menschen haben, oder nicht wissen, was ein Grund für einen Sachverhalt ist und bedeutet.

MF: Gibt es eine wirkliche Verpflichtung, gemäß der moralischen Prinzipien und Urteile, die Sie aufstellen, zu handeln und zu leben?

Ted Honderich:   Lassen Sie mich, was den Begriff der wirklichen Verpflichtung angeht, mein Hauptargument anführen, auf das ich schon angespielt habe. Ich bin überzeugt, dass es für Sie, Herr Lorenzen, Dinge gibt, die Sie für verbindlich halten. Sie sind von ihnen überzeugt. Wenn es nämlich eine Wahl gibt dazwischen, dass Sie für einen Monat gefoltert werden oder dass jemand anderer sich damit abfinden muss, nach wie vor mit dem öffentlichen Bus zur Arbeit zu fahren, statt ein eigenes Auto zu haben, so wäre die angemessene Entscheidung für Sie, nicht gefoltert zu werden. Es geht nicht einfach darum, dass Sie nicht gefoltert werden wollen. Sie sind überzeugt, es wäre falsch für Sie, gefoltert zu werden, nur damit die andere Person in der Lage wäre, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren.
Diese Urteilsfähigkeit hinsichtlich großer und geringerer Güter, behaupte ich, bindet Sie, ebenso wie alle anderen Menschen, an das Humanitätsprinzip. Die Urteilsfähigkeit beinhaltet in der Tat eine wirkliche Verpflichtung. Was wäre eine wirkliche Verpflichtung, wenn nicht diese? Was dem im Weg steht, zu akzeptieren, dass hier eine wirkliche Verpflichtung vorliegt, scheint mir kein guter Einwand zu sein, sondern die traurige Tatsache, dass wir alle, in größerem oder kleinerem Ausmaß, Opfer der für uns geltenden Konventionen sind. Einige Leute scheinen auch zu glauben, dass Verpflichtungen und Rechte nur eine Frage existierender Gesetze sind, was nicht wahr sein kann. Was hauptsächlich falsch läuft in dieser Welt, beruht auf verkorksten Konventionen, die gegen die moralische Intelligenz verstoßen.

Die Behauptung, dass gewisse Dinge existieren, beinhaltet keinerlei Rechtfertigung für sie

MF: Wie sollen wir aber bewerten, was doch auch existiert, die starke Tendenz der menschlichen Natur zu Egoismus, Gleichgültigkeit und selbst Grausamkeit? Handelt es sich hier nicht ebenfalls um natürliche Gegebenheiten, denen Rechnung zu tragen ist?

Ted Honderich:   Man kann unmöglich leugnen, dass diese Dinge existieren, auch wenn es gleichermaßen wahr ist, dass manche Menschen gerne das Hauptaugenmerk hierauf legen, um sich in der einen oder in der anderen Weise zu entschuldigen. Es ist ein Topos des Konservativismus in der Politik (jedenfalls des Konservativismus, wie der Begriff im Englischen gebraucht wird), dass wir alle furchtbar seien und deswegen in unseren Schranken gehalten werden müssten etc., und dass wir auch in einer gerechten Gesellschaft nicht altruistisch sein würden, und Profiteure sich nur menschlich verhielten, wie wir anderen alle auch, etc.
Aber vergessen Sie das. Ich gebe zu, dass wir in einem gewissen Maß egoistisch, gleichgültig und vielleicht sogar grausam sind. Was soll jedoch daraus folgen? Die Behauptung, dass gewisse Dinge existieren, beinhaltet keinerlei Rechtfertigung für sie oder für irgend ein moralisches Prinzip, das ersonnen wurde, um die Fakten zu bestätigen. Jedenfalls wird jeder Versuch vonseiten eines Menschen, Grausamkeit oder was immer zu verteidigen, wie ich es sehe, Opfer des in der Antwort auf die obige Frage gegebenen Hauptarguments werden. Es gibt keine Chance für den Ausgangspunkt eines Gegenarguments von anderer Seite - nämlich für das Urteil, dass jemand im Recht ist, der sich ohne Grund grausam zu einem anderen Menschen verhält.

MF: Ist es richtig, dass Ihr Moralprinzip erlaubt oder sogar verlangt, dass ich mich oder andere verteidige, wenn andere Menschen, Organisationen oder Staaten mich, meine Familie oder mein Land eines guten Lebens berauben wollen ?

Ted Honderich: Ich glaube nicht, dass jeder Angriff auf eine Familie oder ein Volk oder ein Land eine gewaltsame Verteidigung rechtfertigt. Es gibt Umstände, wo das eine schlechte Idee, ein verhängnisvoller, ganz einfach ein irrationaler und falscher Schluss wäre. Diese Schlussfolgerung folgt wahrscheinlich aus jeder Ethik, wie meiner, die auf die Richtigkeit und Falschheit von Handlungen in Bezug auf ihre Konsequenzen blickt. Die Schlussfolgerung ist leicht für mich, weil die besonderen Konsequenzen, mit denen ich zu tun habe, mit den großen Gütern und ihrem Verlust zu tun haben - besonders mit den schlechten Leben.
Es war aller Wahrscheinlichkeit nach richtig für einige Länder, sich Hitler am Beginn des letzten Krieges zu ergeben, statt hoffnungslos weiterzukämpfen. Aber dieser Kommentar, wie vielleicht alles, was man in einem kurzen Interview äußert, bedarf der näheren Bestimmung. Man findet sie in Aufsätzen auf meiner Website, einer in Leipzig gehaltenen Vorlesung und anderen Büchern als "Nach dem Terror". Ich nehme an, es war richtig für die Juden im Warschauer Getto, bis zum Ende gekämpft zu haben - "ohne Hoffnung", wie man sagte. Sie kämpften nicht für sich selbst, sondern für Menschen, die nach ihnen in der Geschichte kommen würden. Es kommt einem in den Sinn zu sagen, dass sie heilige Tode starben. Dasselbe kommt einem bei den Palästinensern in den Sinn.

Ich glaube, dass im Hinblick auf die Benachteiligten der Erde fast alle von uns, und ganz sicher Sie und ich, eine gewisse Verantwortung tragen

MF: Aber ist das nicht eine große Merkwürdigkeit: dass eine Ethik, die selbstverständlich das Gebot "du sollst nicht töten" enthält, nur dann realitätskräftig ist, wenn sie Ausnahmen, in denen es nicht gilt, benennt? Und trifft das nicht auch auf Ihre ethische Auffassung zu ?

Ted Honderich: Das klingt interessant, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es verstehe. Der Gedanke oder Impuls 'Du sollst nicht töten' bleibt aller Voraussicht nach ein guter Gedanke oder Impuls - auch wenn man Ausnahmen von ihm machen muss, wie wahrscheinlich jeder es tut. Es ist interessant, dass die Moral der Menschlichkeit unterschiedliche Grundsätze beinhaltet, die dem Humanitätsprinzip einen zusätzlichen Inhalt geben. Einer davon ist eben ein gegen Gewalt gerichteter Grundsatz .
Aber, wie Sie einwenden, kann er nicht alle Gewalt verhindern. Was nun allgemein die Ausnahmen von Prinzipien betrifft, so scheint es mir übrigens, dass jede annehmbare Moral, das heißt eine klare Moral, die der Selbstenttäuschung usw. entgeht, ein ausnahmeloses Prinzip haben wird, das alles andere beherrscht und Konflikte zwischen konfligierenden Überlegungen regelt. Alles andere ist wahrscheinlich nur eine nach dem Eigeninteresse geschneiderte Moral. Ganz gewiss hat das Humanitätsprinzip diese Rolle in der von mir verfochtenen Moral.

MF: Sie schreiben in "Nach dem Terror", dass wir, nämlich die westliche Welt insgesamt, für die Anschläge vom 11. September Mitverantwortung tragen. Sie führen in einem Kapitel ausführlich aus, dass unsere großen Unterlassungen gegenüber den unglücklichen Menschen in Afrika und anderswo genauso falsch sind, wie gewisse vorstellbare schreckliche Handlungen. Heißt das aber, Ihre oder meine Schuld sei prinzipiell dieselbe, wie diejenige von Bush und Blair oder den führenden Managern großer Unternehmen, die sich bemühen, möglichst große Profite in Afrika, Lateinamerika usw. zu erwirtschaften - oder macht es Sinn, hier zu differenzieren?

Ted Honderich: Mein Hauptinteresse in diesem Buch in Zusammenhang mit diesen Dingen ist es, die Frage zu beantworten, ob bestimmte Handlungen oder politische Maßnahmen - gewisse Akte der Unterlassung - falsch sind. Das ist verbunden mit der Frage, aber nicht wirklich mit ihr identisch, ob wir als Menschen gut, schlecht oder sogar monströs sind.
Es gibt einen Unterschied zwischen richtigen Handlungen als solchen, moralisch guten Akteuren bei besonderen Handlungen und eher im allgemeinen, statt in Verbindung mit besonderen Handlungen, moralisch guten Personen. Es ist offensichtlich sogar moralisch beeindruckenden Leuten möglich, falsche Dinge zu tun, und Monstern, richtige. Aber das ist noch nicht alles. Es gibt eine komplizierte Verbindung zwischen richtigen Handlungen und moralischem Ansehen, falschen Handlungen und moralischer Verurteilung. Ich glaube, dass im Hinblick auf die Benachteiligten der Erde fast alle von uns, oder jedenfalls sehr viele von uns, und ganz sicher Sie und ich, eine gewisse Verantwortung tragen und richtigerweise als Personen einer moralischen Beurteilung unterworfen sind. Das glaube ich. Aber ich stimme Ihnen zu, dass es da Abstufungen gibt. Es muss sie geben. Und nun zum anderen Aspekt, von der Unterlassung zur wirklichen Handlung. Da gibt es, Gott sei Dank, in Verbindung mit den 10.000 zivilen Toten im Irak einen großen Unterschied zwischen mir und dem Lügner, der der gewählte Führer meines Landes ist.

Manchmal ist die Anweisung: 'Tu was ich sage, nicht was ich tue', genau die richtige

MF: Was könnte man tun, um unser Verantwortungsgefühl angesichts des Hungers und der Ausbeutung in der Welt zu stärken? Vielleicht erlauben Sie die Frage, wie Sie selbst in Ihrem Leben mit diesem Problem der Verantwortlichkeit umgehen?

Ted Honderich: Es gibt nicht die eine Sache, die zuerst getan werden müsste, um die Dinge zu ändern, und um uns als ersten Schritt zu ändern. Es gibt kein Allheilmittel. Wir sollten wirklich alles tun, was wir können. Wir sollten Geld geben, Bücher schreiben, Heucheleien bloßstellen, versuchen, wie Chomsky in unserem Skeptizismus und sogar Zynismus zu sein. Wir sollten auch die Waffen erheben und kämpfen, wenn das rational ist.
Was mich angeht, so entspricht mein Leben, wie ich nicht müde werde zuzugeben, nicht dem von mir aufgestellten Prinzip. Ich müsste mehr tun. Ich habe wenig zu meinen Gunsten zu sagen. Es gibt nur den kleinen, sehr kleinen Trost, dass es meinen Kindern gegenüber in einem gewissen Sinne - in einiger, wenn auch sicherlich nicht in jeder Hinsicht - unfair wäre, wegzugeben was ich habe. Eine letzte Sache: dass ich ein Heuchler bin, wenn das denn die richtige Beschreibung ist, zieht in keinem Moment nach sich, dass das, was ich befürwortete, falsch ist. Manchmal ist die Anweisung: 'Tu was ich sage, nicht was ich tue', genau die richtige.

MF: Unsere von Ihnen diagnostizierte Mitverantwortlichkeit für den 11. September beinhaltet jedoch nicht, dass diese Anschläge moralisch legitim wären. Weswegen sind sie zu verurteilen?

Ted Honderich: Meine Verurteilung des 11. September basiert im wesentlichen auf der These, dass diese Angriffe nicht so, als hätten sie höchstwahrscheinlich im Sinne des Humanitätsprinzips eine positive Wirkung, eingeschätzt werden können. In einfachem Englisch: so funktionieren sie eben nicht. Wie es nun aussieht, haben sie auch nicht in diesem Sinne funktioniert. Es ist möglich oder wahrscheinlich, dass 10.000 Zivilisten im Irak heute noch am Leben wären, wenn der 11. September nicht stattgefunden hätte.

Dennoch stehe ich zu meinen Urteilen über den 11. September und Palästina

MF: Kommen wir nun zu dem Punkt Ihres Buches zurück, der am meisten Staub aufgewirbelt und Ihnen auch den - wie ich meine, völlig unbegründeten - Vorwurf des Antisemitismus eingetragen hat. Halten Sie wirklich, bei ruhiger Überlegung, die Angriffe der palästinensischen Selbstmordattentäter für moralisch gerechtfertigt, also für eine Angelegenheit des moralischen Rechts, im Gegensatz zu den Angriffen auf die Zwillingstürme ?

Ted Honderich: Ich stehe zu meiner Ansicht hinsichtlich des moralischen Rechts der Palästinenser. In meinem Buch handelt es sich um eine Art nachträglicher Überlegung - wie Sie wissen, geht es dort eigentlich nicht um Palästina und Israel. Diese Ansicht wird im Buch also nicht detailliert verteidigt. Sie wird dargelegt als eine Schlussfolgerung, die vom Prinzip der Humanität und dazwischenliegenden Prämissen ableitbar ist, aber eine Menge blieb ungesagt. Seither wurde ein Gutteil ausgeführt. Einiges davon handelt von Zivilisten, Unschuldigen, Halb-Unschuldigen und ähnlichem, anderes von der [scheinbaren] Normalität eines Urteils über die Rechtmäßigkeit zu töten - Neo-Zionisten beanspruchen jeden Tag ein moralisches Recht für ihre Morde.
Was sachliche Urteile darüber, welche Wirkung Gewalt haben wird, angeht, so gebe ich Ihnen zu, dass sie schwierig sind. Sie sind diffiziler als rein moralische Fragen. Dennoch stehe ich zu meinen Urteilen über den 11. September und Palästina. Lassen Sie mich eine andere Sache wiederholen. Sie können fehlgehen im Leben, moralisch gesehen, indem Sie sich Problemen wegen philosophischer oder anderer Schwierigkeiten nicht stellen. Sie müssen in einer Situation unvollständigen Wissens handeln. Sie können nicht nicht handeln oder sprechen, weil Urteilen schwierig ist. Deutsche sollten das wissen. Um mich auf eine von mir in Leipzig gehaltene Vorlesung zu beziehen: sie sollten sich ebenfalls daran erinnern, dass ihr Schweigen in Bezug auf den Holocaust und die Vergewaltigung Palästinas eine bestimmte Frage aufwirft. Verhalten sie sich wie jemand, dessen Vater eine Frau tötete, und der nun schweigt, wenn ihr Sohn jemanden vergewaltigt?

MF: Vielleicht muss man, wie Sie in "Nach dem Terror" (S. 260 ff der deutschen Übersetzung) schreiben, in gewisser Hinsicht tatsächlich keinen ethischen Unterschied zwischen dem von einem israelischen Hubschrauberpiloten in Kauf genommenen Tod eines palästinensischen Passanten und dem Mord an einem israelischen Passanten durch eine arabische Selbstmordattentäterin machen (S. 265). - Aber vielleicht könnten beide Aktionen nicht zu billigen sein?

Ted Honderich: Es ist eine verbreitete Ansicht, dass beide Mörder falsch handeln. Aber diese verbreitete Ansicht scheint mir unreflektiert zu sein. Wenn beide, die Palästinenser und die Neo-Zionisten mit dem Töten aufhören, wird das Resultat die permanente Vergewaltigung eines Volkes und seines Heimatlandes sein. Eine große Vergewaltigung wird fortdauern. Es gibt erdrückende Unterschiede zwischen dem Töten auf der einen und dem Töten auf der anderen Seite, zwischen den beiden Terrorismen. Sie sind nicht identisch. Das aus den Augen zu verlieren, nicht den Mut aufzubringen, das zu sehen, und sich an das bloße Faktum zu klammern, ist gänzlich falsch.
Hier ist übrigens der Moment um zu sagen, dass diese Ansicht von einigen, ja von vielen Zionisten geteilt wird. Sie wird von moralisch ehrenwerten und tapferen Leuten in Israel geteilt. Und die Ansicht, dass dasjenige, was der Neo-Zionismus macht, falsch ist, wird von noch mehr Zionisten und Israelis geteilt. Sie wird geteilt, ich bin glücklich, das sagen zu können, von Abraham Melzer, der die zweite Übersetzung meines Buches in Deutschland herausgebracht hat - ein ehrenwerter Deutscher, Israeli und Jude.

MF: Glauben Sie, dass die Motive etwa der Hamas-Führer, die ihre Anhänger in den Tod schicken, wirklich "human" sind - würden diese Leute, die so fanatisiert und grausam sind, nicht, kämen sie an die Macht, vielleicht ihr eigenes Volk so unterdrücken, wie es die Taliban in Afghanistan getan haben?

Ted Honderich: Ich bin gänzlich geheilt von der kindischen Idee, dass ein moralischer Vergleich zwischen Völkern, Kulturen und Führern leicht möglich sei. Unsere Führer gestatten in diesem Augenblick einen Verlust von 20 Millionen Jahren Lebenszeit in Afrika - was doch nur ein Beispiel für solche Verluste ist. Wie Sie wissen, ordneten die Vereinigten Staaten und Großbritannien, oder vielmehr ihre Führer, mit einer großen stillschweigenden Unterstützung der Bevölkerung, den Tod von Hunderttausenden oder Millionen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg an. Am Beginn stand, was von den Engländern das Terror-Bombardement Deutschlands genannt wurde. Und Sie werden die entsprechenden Beiträge deutscher Führer nicht vergessen haben.

MF: Müsste man nicht dennoch die Motive der Hamas berücksichtigen - und folglich untersuchen -, bevor man von palästinensischem "Befreiungsterrorismus" oder "Terrorismus für Humanität" spräche?

Ted Honderich: Ich habe nicht eben viele Gründe, um die Motive der Führer, von denen Sie sprechen, anzuzweifeln. Aber sind sie wirklich so viel schlechter als diejenigen Bushs? Mir scheint, dass sie einer vergleichenden Untersuchung ganz gut standhalten können. Ich stimme natürlich zu, dass es im allgemeinen oder sehr oft keine gute Idee ist, Leute mit schlechten Motiven zu unterstützen. Aber, wie Sie schon gehört haben, ist das nicht die Hauptfrage. Ich glaube, dass jeder, wenn er dazu gebracht werden könnte, über die Sache nachzudenken, manchen schlechten Menschen in mancher Situation unterstützen würde, wenn er wirklich annehmen könnte, dass dadurch Menschen aus ihrem elenden Leben herauskämen. Was wäre denn wichtig, wenn man die eine ohne die andere Welt haben könnte - eine Welt ohne Leid oder eine Welt voller guter Motive?

Es ist wichtig, den Anstand am Leben zu erhalten

MF: Sie argumentieren konsequentialistisch, dass terroristische Aktionen, die dem Ziel des humanitären Prinzips dienen, legitim seien. Liegt hier nicht eine ungeheure Gefahr der Aushöhlung moralischer Prinzipien ?

Ted Honderich: Das humanitäre Prinzip besteht, wie ich sage, darin, dass wir rationale Schritte unternehmen müssen, um die Menschen aus dem herauszubringen, was untertrieben als schlechtes Leben beschrieben wird - oft ein kurzes und schreckliches Leben. Es verbietet alle Schritte, die zwar beabsichtigen, diesem Prinzip zu dienen, in der Tat aber irrationale oder nicht-rationale Schritte sind.
Tatsächlich ist es menschlicher als andere wirkliche oder vorgegebene Prinzipien. Würde es angenommen, würde es natürlich andere moralische Prinzipien unterminieren, die es natürlich nicht als gültig ansieht. Meiner Ansicht nach müsste eben das geschehen. Das ist es, was ich wünsche. In dieser Hinsicht bin ich wie jeder andere Verteidiger einer moralischen Position. Er oder sie glaubt, dass sein oder ihr Prinzip den Sieg davontragen sollte. Das trifft selbst für den Mischmasch des Liberalismus zu.

MF: Wenden wir uns zum Schluss noch einmal dem Problemkomplex zu, der das eigentliche Zentrum Ihres Buches ausmacht. Dem Hunger in der Welt fallen jeden Tag Abertausende von Menschen zum Opfer. Sie führen in Ihrem Buch aus, dass am 11. September, während 3000 Menschen in den Angriffen umkamen, 24.000 an Hunger starben Glauben Sie, dass das tödliche Elend der Armen, das Sie beschreiben, in absehbarer Zeit beseitigt werden wird? Sind Sie diesbezüglich eher optimistisch oder pessimistisch eingestellt?

Ted Honderich: Was eine kürzere Zeitspanne angeht, bin ich pessimistisch. Die Hungernden und Sterbenden sind natürlich nicht sehr effektiv darin, die Eigeninteressen der Ölpräsidenten und der Werbemanager, aus denen Premierminister geworden sind, zu bekämpfen. Sie werden es niemals sein, was für sie spricht. Und moralische Appelle ändern die Welt nicht. Sie können nicht viel tun, um die moralische Stupidität Amerikas zu erschüttern - ich meine eine Stupidität, die sich der Ignoranz und dem Mangel an echter Übung, Dinge zu beurteilen, verdankt. Aber hieraus resultiert kein Zweifel darüber, was geschehen müsste.
Wenn Sie fragen, ob es irgendeinen Sinn macht, Sätze wie meine zu äußern, so gibt es mehrere Antworten. Es ist wichtig, den Anstand am Leben zu erhalten und nicht zuzulassen, dass er verschwindet und in die widerliche Scheinheiligkeit und Selbsttäuschung von Blair und seinesgleichen absinkt.
Und vielleicht bekommt man ein wenig Hilfe. Jemand wie Brumlik kann auftauchen und eine lügenhafte oder dumme oder auf Selbsttäuschung beruhende Anklage erheben, als wolle er seine Fähigkeit als Lehrstelleninhaber an der Universität in Frage stellen, einem aber eine große Aufmerksamkeit für die eigenen Ansichten bescheren. Jedenfalls in Deutschland, was dem Land zur Ehre gereicht.

MF: Prof. Honderich, wir danken Ihnen für die Beantwortung unserer Fragen. Man muss Ihren Standpunkt hinsichtlich der palästinensischen Terrorakte nicht teilen, um Ihrem Buch das große Verdienst zuzuerkennen, die ethische Debatte auf die realen Probleme unserer Welt zu fokussieren.

Das Gespräch führte Max Lorenzen

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